Einführung in die „Deaf Community“

Die Deaf Community, auch Gehörlosengemeinschaft genannt, definiert sich nicht nur über ihren Hörstatus, sondern vor allem über ihre gemeinsame Sprache, die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Darum wird neben dem Begriff Deaf Community oft auch von Gebärdensprachgemeinschaft gesprochen. Die Gebärdensprachgemeinschaft umfasst einen größeren Personenkreis als die Deaf Community, denn sie definiert sich in erster Linie über die gemeinsame Sprache ihrer Mitglieder. So können nicht nur von Geburt an Gehörlose der Gebärdensprachgemeinschaft angehören, sondern auch im Jugendalter Ertaubte oder sogar Spätertaubte und Schwerhörige. Die hörenden Kinder gehörloser Eltern können genauso dazugehören wie gut gebärdende Hörende. Die Mitgliedschaft in der Gebärdensprachgemeinschaft richtet sich also nicht allein nach dem Hör-Defizit, sondern nach der positiven Fähigkeit zur gebärdensprachlichen Kommunikation. Dies weist zugleich auch auf die positive Identität der Gehörlosen hin. Sie empfinden sich nicht als Behinderte und schon gar nicht als taube oder gar taubstumme Sprachlose. Sie sind vielmehr gleichwertige leistungsfähige Menschen, die sich aufgrund eines funktionsuntüchtigen Sinnesorgans anstelle des Laut-Sprechens und Laut-Hörens bei der Kommunikation einer Sprache der visuell-manuellen Modalität, nämlich der DGS, bedienen.

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass die pädagogisch-gesellschaftlichen Konzepte zur „Förderung“ Hörgeschädigter zwangsläufig unterschiedlich ausfallen müssen, je nachdem ob sie sich primär an dem medizinisch-defizitären Menschenbild vom Gehörlosen als Hörbehinderten oder mehr an dem linguistisch-positiven Menschenbild vom gleichberechtigten zweisprachigen Gehörlosen orientieren, der sich eigenverantwortlich in zwei Welten mit zwei Sprachen bewegen möchte.

Die Vertreter der einseitigen Lautsprachmethode in der Gehörlosenpädagogik (orale Methode) sind in erster Linie auf die Reparatur des Hör-Defekts fixiert. Sie möchten die Gehörlosen in die hörende Welt integrieren, indem sie sie möglichst weit an die Mehrheitsnorm der Lautsprachgemeinschaft anzupassen suchen. Die für ein Konzept der Zweisprachigkeit Gehörloser in Laut-/Schrift- und Gebärdensprache plädieren — und das sind seit Generationen in Deutschland eher die Gehörlosenverbände als die Gehörlosenpädagogen gewesen — akzeptieren Gehörlose erst einmal so wie sie sind. Sie begrüßen, daß Gehörlose mit der DGS eine eigene und voll funktionierende Sprache haben. Die DGS bietet ihnen nicht nur alle Vorzüge eines entspannten gleichberechtigten Lebens in einer natürlichen Sprachgemeinschaft, sondern ermöglicht ihnen auch eine altersgemäße emotionale, soziale und geistige Entwicklung mit einer stabilen positiven Identität.

Die einseitige Lautsprachmethode hat in Deutschland ihren Ursprung. Sie hat hier über 100 Jahre lang vorgeherrscht und wird im Ausland sogar the German Method genannt.

Die DGS wurde von ihr zum Teil aggressiv bekämpft. Aber nicht nur von der oralen Pädagogik fühlen sich viele Gehörlose nicht akzeptiert. Auch die Verfolgung genetisch Gehörloser und die Zwangssterilisierung mehrerer tausender Gehörloser durch die Nazis hat in der Vergangenheit zu einer erheblichen Distanz der Deaf Community gegenüber Hörenden geführt.

Dennoch haben die Gehörlosenverbände auch in Deutschland immer wieder die Anerkennung ihrer Gebärdensprache gefordert. Die Ablehnung der DGS in der Vergangenheit (z.T. auch noch heute) haben die Mitglieder der Deaf Community enger zusammenrücken lassen, als es bei anderen Gruppen üblich ist. Aus dieser schützenden Gruppennähe erklären sich auch viele Verhaltensweisen, die Gehörlose im Umgang miteinander, auch bei der Kommunikation entwickelt haben.

Inzwischen hat sich in der Deaf Community in Deutschland eine reiche kulturelle Vielfalt entwickelt. Es gibt mehrere Gehörlosen- bzw. Gebärdensprachtheater, die z.T. in selbst geschriebenen Stücken ihr Leben, ihre Gebärdensprache und auch die Probleme mit der hörenden Umwelt auf die Bühne bringen und damit auch bei Hörenden auf großes Interesse stoßen. Gehörlose Künstler verwirklichen ihre besondere Identität in Bildern, Skulpturen und Objekten. Die Deaf Community feiert seit 1991 jährlich ihre DGS, indem sie ihre besten Gebärdenerzähler mit der Goldenen Hand prämiert.

In Hamburg studieren seit Ende der 80er Jahre Gehörlose in größerer Zahl die unterschiedlichsten Fächer. Gehörlose erforschen und lehren dort als Universitätsdozenten die DGS. Am Fachbereich Sprachwissenschaften wurde ein eigenes Institut für DGS gegründet und ein Studiengang für DGS und Gehörlosenkultur sowie eine mehrjährige Diplom- bzw. Bachelordolmetscherausbildung für DGS eingerichtet.

Ähnliche Entwicklungen beginnen auch an anderen Orten in Deutschland (Aachen, Berlin, Frankfurt, Köln, Magdeburg, München und Zwickau). Dabei haben die Gehörlosen ihre Sache durchweg selbst in die Hände genommen, was sie nicht hindert, partnerschaftlich mit hörenden Fachleuten zusammenzuarbeiten.

Ein besonderer Verdienst um die Weiterentwicklung der Deaf Community in Deutschland kommt dem Deutschen Gehörlosen-Bund zu, in dem die meisten Gehörlosen organisiert sind. Hier wird seit den 90er Jahren in verschiedenen Fachreferaten eine selbstbewusste und fundierte politische Arbeit zur Anerkennung der Deaf Community betrieben.

Einen umfassenden Eindruck vom neuen Selbstbewusstsein der Deaf Community in Deutschland boten z.B. der Kongress zur Zweisprachigkeit Gehörloser 1993 sowie die Deutschen Kulturtage der Gehörlosen 1993 in Hamburg und 1998 in Dresden. In Vorträgen, Workshops, Ausstellungen, Diskussionen und Theateraufführungen zeigten gehörlose Menschen allen, die es sehen wollten, was sie können, was sie wünschen, und was sie sind.

Die DGS verbindet die Gehörlosen zu einer geschlossenen und dynamischen Gemeinschaft. Die DGS vermittelt die Gedanken, Erfahrungen, Traditionen und Werte der Gehörlosen dieser Gemeinschaft. Gehörlose können mit ihrer Hilfe ebenso Dichter, Tischler, Mechaniker, Bauern, Künstler, Lehrer, Pfarrer, Geschäftsleute, Wissenschaftler und Journalisten sein wie Hörende mit Hilfe der Lautsprache. Gehörlose haben ihre eigenen Organisationen, Berufsverbände, Theater und Kirchengruppen, und die Deaf Community hat demzufolge auch ihre eigenen Führungspersönlichkeiten hervorgebracht.

Nach der sprachwissenschaftlichen Anerkennung muss die DGS nun noch gesellschaftlich, politisch und juristisch anerkannt werden. Denn erst dadurch wird auch gesellschaftspolitisch deutlich, dass gehörlose Menschen nicht als „arme taubstumme Behinderte“ anzusehen sind, sondern als Mitglieder einer sprachlichen Minderheit.

Quelle: „Grundkurs Deutsche Gebärdensprache, Stufe I, Arbeitsbuch Anne Beecken u.a., Signum Verlag, Hamburg“