Einführung in die Deutsche Gebärdensprache

Viele Menschen glauben irrtümlicherweise, die Deutsche Gebärdensprache (DGS) sei mit Gebärden sichtbar gemachtes Deutsch. Manche glauben, es sei eine Art manueller Kode für das Deutsche. Sie denken, DGS könne nur konkrete Dinge ausdrücken oder es sei eine universale Gebärdensprache, die von Gehörlosen auf der ganzen Welt gleichermaßen benutzt würde.

Die moderne Sprachwissenschaft hat jedoch in den letzten drei Jahrzehnten weltweit nachgewiesen, dass die nationalen Gebärdensprachen der gehörlosen Menschen in Komplexität und Ausdrucksfähigkeit den Lautsprachen in nichts nachstehen. Dies gilt auch für die DGS. Sie ist kein gebärdetes Deutsch oder lautsprachbegleitendes Gebärden, sondern besitzt eine eigene Grammatik und ein spezifisches Lexikon. Beides muss für die DGS genauso gelernt werden wie die Grammatik und der Wortschatz der deutschen Lautsprache.

Ein offensichtlicher Unterschied zwischen der DGS und dem Deutschen betrifft die Modalitäten. Während die Lautsprache über das Ohr und die Sprechorgane funktioniert, ist die DGS eine visuelle Sprache. Sie benutzt den Körper als Sprachinstrument. Dabei spielen insbesondere die manuell im Gebärdenraum vor dem Oberkörper ausgedrückten Zeichen, d.h. die Gebärden eine wichtige Rolle. Zusätzlich, meistens sogar gleichzeitig mit manuellen Zeichen, werden jedoch auch Mimik, Kopf- und Körperhaltung zum Ausdruck grammatischer Merkmale und Funktionen eingesetzt. Weniger offensichtlich dabei ist, dass viele grammatische Strukturen in der DGS anderen Regeln und Prinzipien unterliegen als die der deutschen Lautsprache.

Auf DGS kann man ebenso differenzierte konkrete oder abstrakte Gedanken ausdrücken wie auf Deutsch. Gebärdende können sich über Philosophie, Literatur oder Politik genauso unterhalten wie über Fußball, Autos und ihre Steuererklärung. Gebärdensprache vermag Dichtung genauso ergreifend auszudrücken wie jede gesprochene Sprache. Auch Witz, Scherz und Satire können in Gebärdensprache genauso feinsinnig oder beißend sein wie in Lautsprache. Als Reaktion auf kulturelle und technologische Veränderungen entwickeln sich in der DGS zudem ständig neue Gebärdenzeichen.

DGS ist nicht universal. Genauso wie auch Hörende in verschiedenen Ländern verschiedene Sprachen sprechen, so gebärden auch Gehörlose in den verschiedenen Gegenden der Welt in verschiedenen Gebärdensprachen. Deshalb gibt es neben der DGS z.B. auch eine Amerikanische, Französische, Britische, Chinesische, Thailändische Gebärdensprache. Selbst in der DGS lassen sich ähnlich wie im Deutschen verschiedene regionale Varianten feststellen. Diese unterscheiden sich durchweg nur in der Ausformung einzelner Gebärdenzeichen, unseres Wissens jedoch nicht in ihrer Grammatik.

Die DGS hat sich in der Gehörlosengemeinschaft Deutschlands entwickelt, also überall dort, wo mehrere Gehörlose und insbesondere gehörlose Kinder regelmäßig zusammentrafen. DGS existiert daher, seitdem es Gehörlose in Deutschland gibt. Das sind in erster Linie die Großstädte mit ihren Gehörlosen-Clubs und die Internatsschulen. Selbst die ausschließlich auf Lautsprache ausgerichteten sog. oralen Gehörlosenschulen gaben der Entwicklung der DGS wichtige Impulse. Hier wurde sie von einer Generation auf die nächste weitergegeben. Sogar wenn Gebärden im Klassenzimmer verboten waren, gaben Kinder gehörloser Eltern, gehörlose Lehrer und andere gehörlose Angehörige der Schule heimlich ihre Sprache an die anderen Schüler weiter. Heute wird DGS in Deutschland von etwa 80.000 Personen benutzt.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde versucht, Gehörlose davon abzubringen, Gebärdensprache zu verwenden. Viele Erzieher und Lehrer glaubten, dass nur Sprechen und Ablesen Gehörlosen einen Zugang zur hörenden Welt eröffnen könne. Sie haben deshalb irrigerweise darauf bestanden, dass gehörlose Kinder in erster Linie versuchen sollten, sprechen zu lernen und nicht zu gebärden. Einige sind sogar soweit gegangen, gehörlosen Kindern die Hände zusammenzubinden, um sie am Gebärden zu hindern.

Heute sind es die Vertreter ähnlich einseitiger medizinisch-pädagogischer Ansätze wie der sog. Hörgerichteten Früherziehung und der Cochlear Implantation, die der Verwendung von Gebärdensprache in Erziehung und Bildung Gehörloser ablehnend gegenüberstehen. Trotz dieser und anderer Versuche, das Gebärden zu unterbinden, ist DGS die bevorzugte Sprache der Gehörlosengemeinschaft in Deutschland geblieben. Die Verwendung von Gebärden wird von Gehörlosen nicht als Nachteil erfahren. Gehörlose sehen DGS vielmehr als ihre natürliche Muttersprache an, selbst wenn sie hörende Eltern haben. Die DGS spiegelt die kulturellen Werte ihrer Sprachgemeinschaft wider, und sie erhält damit die Traditionen Gehörloser am Leben.

Quelle: „Grundkurs Deutsche Gebärdensprache, Stufe I, Arbeitsbuch Anne Beecken u.a., Signum Verlag, Hamburg“